Mittwoch, 19. Mai – der 139. Tag anno 2021
Es ist ein Tag, an den sich die Franzosen lange erinnern werden. Seit sieben Monaten waren Restaurants, Bistros, Bars etc. wegen Corona geschlossen, jetzt durften Außen-Gastronomie, Geschäfte, Kinos, Theater und Museen wieder öffnen. Ich wollte dabei sein!
Paris ohne seine Terrassen war ziemlich traurig. Denn sie sind der ideale Ort, um Leute diskret zu beobachten, sich modisch zu orientieren, während man beim Espresso Postkarten an seine Lieben zu Hause schreibt, oder sich mit Freunden zum „Apéro“ – wie die Franzosen sagen – trifft.
Kultur und ich
Mein erster Höhenflug in die Kultur ist das Giacometti Museum im 14. Arrondissement. Der 92ziger Bus bringt mich ohne Umwege bis fast vor die Tür. Vorbei am Champs de Mars, wo ich kurz einen neugierigen Blick auf das „Grand Palais Ephémère“ vor dem Eiffelturm werfe. Eine provisorische Ausstellungshalle aus Holz, die bis zu den Olympischen Spielen 2024 Schauplatz großer Kunst, Mode und Sportveranstaltungen sein wird, denn das historische Grand Palais ist wegen Bauarbeiten geschlossen. „Ephémère“ bedeutet übrigens temporär, der Preis dafür ist allerdings ganz beachtlich:
40 Millionen €!
Alberto Giacometti
Ein Besuch im Atelier dieses Genies will offensichtlich verdient sein: Ich kann das Museum einfach nicht finden. Mein Handy ist platt, Google Maps nicht mehr zur Hand. Und da ich rechts von links nicht unterscheiden kann, laufe ich im Kreis herum, bis ich irgendwann vor der „Art-Nouveau“ Villa in der Rue Victor Schoelcher am Friedhof von Montparnasse stehe! Der Titel für die Ausstellung ist einem Zitat des irischen Dichters Samuel Beckett entnommen, mit dem Giacometti eine tiefe Freundschaft verband.
“Ever tried, ever failed. No matter. Try again. Fail again, fail better”. Beide gaben sich mit dem Resultat ihrer Arbeiten nie zufrieden, und feilten an jedem Detail. Kenne ich!
Giocometti hat übrigens ein Bühnenbild für ein Theaterstück von Beckett entworfen, auf dem als einziges Requisit ein blätterloser, karger Baum stand. Der sollte mir sonderbarerweise am gleichen Tag noch einmal begegnen!
Modern Dance im Nationaltheater Chaillot
Auf dem Nachhauseweg steige ich kurz am Trocadero aus der Metro, um die Perspektive auf den Eiffelturm zu bewundern – die eiserne Dame (auf Französisch ist es La Tour Eiffel) bekommt gerade ihren neuen, gold-bronzenen Anstrich für die Olympiade.
Direkt daneben befindet sich das Nationaltheater Chaillot. Dort stehen Leute Schlange und tatsächlich beginnt um 18 Uhr (Sperrstunde ist um 21 Uhr!) ein modernes Ballet von der Choreografin Caroline Carlson. Es ist die erste Vorstellung seit 7 Monaten und natürlich ausverkauft (30 % Belegung). Ich rede freundlich und mit viel Überzeugungskraft auf die Kontrolleure ein, und sitze tatsächlich Minuten später im Saal. Das Ballet heisst: „The Tree“, und siehe da, da steht er wieder auf der Bühne, der Baum von Giacometti! Die Vorstellung war großartig, die Atmosphäre nach dieser langen Auszeit bewegend und das nicht nur auf der Bühne. Trotzdem: war es die Maske, die mich irgendwann so müde machte???
Die Rue Poncelet feiert
Mit dem Baguette unter dem Arm strebe ich meinen Rückzugsort und die Ferienwohnung in der Nr. 10 rue Poncelet an, bleibe dann aber gegenüber vor dem Kaffeehaus stehen, denn dort wird ausgeschenkt: die Händler feiern den ersten Tag zurück zur Normalität in Paris und ich feiere mit!